Kritik

Maßlos begeisternd: „Romeo und Julia“ im Residenztheater

Das Bayerische Staatsschauspiel zeigt Shakespeares Liebesdrama mit Esprit und Tempo - und einer gelungenen Balance zwischen dem Klassiker und einer feministischen Botschaft
Michael Stadler |
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Romeo (Vincent zur Linden) und Julia (Lea Ruckpaul) werden immer wieder von der Kamera eingefangen.
Romeo (Vincent zur Linden) und Julia (Lea Ruckpaul) werden immer wieder von der Kamera eingefangen. © Birgit Hupfeld

So romantisch die Liebe auf den ersten Blick erscheinen mag, auf den zweiten Blick ist sie auch (und vor allem?) ein biochemischer Prozess. Sogar die Nase spielt in die Partnerwahl hinein, bestimmen die Pheromone genannten Duftstoffe doch, ob man den anderen gut riechen kann oder nicht. Kein Wunder also, dass Julia ihren Romeo im Rausch der Liebe einmal wild von oben bis unten beschnuppert. Die Körper haben sich da bereits im Überschwang der Gefühle gefunden.

Bei einem Maskenball sehen die beiden sich zum ersten Mal, die Capulets feiern, die verfeindeten Montagues schleichen sich ein. Nur Romeo und Julia streifen die Shakespeare-Masken ab, gehen aufeinander zu, überwältigt vom Magnetismus ihrer Körper. Der zeigt sich vor der Pause nochmal besonders schön auf der Leinwand: Aus der Vogelperspektive blickt man (Live-Kamera: Niels Voges, Video: Jonas Alsleben) auf sie herab. In verschiedenen Ecken liegen sie, angeschlagen, winden sich am Boden magisch aufeinander zu, bis sie aneinandergeschmiegt zusammenliegen.

Tolle Bilder haben Elsa-Sophie Jach und ihr Team für die Anziehungskraft gefunden, die sich zwischen zwei Menschen ergeben kann. Kein postmoderner Zweifel liegt über dem titelgebenden Paar, sondern sie drehen förmlich durch vor Liebe. Die ersten Szenen zwischen Romeo und Julia gehören zum Schönsten, was man derzeit im Theater sehen kann. Da rennt Romeo einmal impulsiv im Kreis und rutscht vor Julia hin wie ein Fußballspieler nach dem Torerfolg. Sie richtet ihn auf, freut sich mit ihm, rennt an anderer Stelle selbst unvermittelt los, um ihn zu bespringen.

Barbara Horvath und Lea Ruckpaul in „Romeo und Julia“
Barbara Horvath und Lea Ruckpaul in „Romeo und Julia“ © Birgit Hupfeld

Wenn die Gehirne verrückt spielen

Was für ein Hormoncocktail in den Körpern ausgeschüttet wird und die Gehirne verrücktspielen lässt, machen Lea Ruckpaul und Vincent zur Linden wunderbar spürbar. Vincent zur Linden ist so leidenschaftlich wie ein junger Liebender in einem Shakespeare-Stück eben sein muss, dabei präzise-nuanciert im Spiel. Lea Ruckpaul macht von Anfang an klar, dass Julia eine junge Frau ist, die für ihre Selbstbestimmung kämpfen wird, kraftvoll, aber auch mal ängstlich, voller Hingabe.

Ähnlich leidenschaftlich prallen die Feinde aufeinander - der Zwist zwischen den Montagues und Capulets entzündet sich kurz nach Beginn in einem von Dominik Wiecek wuchtig choreografierten Kampf. Auf der einen Seite Tybalt, mit stringenter Wut von Thomas Lettow gespielt, und Paris, dem Pujan Sadri eine aufrechte Würde gibt, die aber ins Wanken gerät, steht Paris als Bewerber um Julias Hand doch auf verlorenem Posten. Auf der anderen Seite bilden Romeo, Mercutio und Benvolio ein Trio, das sich so gut versteht, dass es den Rahmen freundschaftlicher Liebe sprengt.

Lea Ruckpaul als Julia.
Lea Ruckpaul als Julia. © Birgit Hupfeld

Der Sprachmächtigste von allen ist Mercutio - Patrick Isermeyer bringt den Shakespearschen Wortwitz brillant auf den Punkt. Als Benvolio ist Lisa Stiegler ein Kumpel für alle Fälle, ungeheuer agil, in alle Gefühlsrichtungen fluide, aufbrausend, sensibel. Wieso eine Frau nicht genauso gut dichten können sollte wie ein Mann, echauffiert sich Benvolio und lässt auf Romeos Macho-Reim „Lustspiel/Brustspiel“ Taten folgen. In die deutsche Übersetzung von Thomas Brasch haben Jach und Dramaturgin Katrin Michaels Verse von Aphra Behn und Anne Finch hineingeschmuggelt, von zwei Autorinnen, die nach Shakespeare lebten und deren Werke in Vergessenheit geraten sind.

Eine Figur von eigenwilliger Strahlkraft

Wie Frauen als Schöpferinnen von Literatur lange Zeit unterschätzt und nicht geachtet wurden, zieht sich als Thema durch die Inszenierung. So zitiert Julias Amme ein Gedicht von Anne Finch, das Virginia Woolf für ihren Essay „Ein Zimmer für sich allein“ (1929) auswählte. Die Apothekerin spricht mit Woolfs Worten darüber, welches Schicksal wohl begabte Frauen einst ereilt hätte, hätten sie ihre Werke nicht unter dem Pseudonym „Anonymus“ veröffentlicht. In ihrem medizinischen Arsenal hat die Apothekerin auch Gift - Evelyne Gugolz gibt dieser solitären Figur eine eigenwillige Strahlkraft.

„Romeo und Julia“ im Residenztheater
„Romeo und Julia“ im Residenztheater © Birgit Hupfeld

Das Patriarchat bleibt bei Shakespeare trotz aller Männer, die ihrem eigenen Krieg zum Opfer fallen, intakt. Jach und ihr Team mischen dem Klassiker einen zeitgemäßen, feministischen Ton unter. Oliver Stokowski verkörpert den Patriarchen Capulet mit gnadenlosem, komödiantisch angehauchtem Gusto. Barbara Horvath zeigt als Lady Capulet, die Haare steif hochtoupiert, mit leichter Melancholie im Blick, dass die Frauengeneration vor Julia in der Männerwelt erstarrt ist.

Die Musik setzt dunkle Akzente

Aber es regt sich was. Der Prinz von Verona, von Delschad Numan Khorschid mit unerbittlicher Schärfe gespielt, kann nicht verhindern, dass die Liebe sich seiner Kontrolle entzieht. Bereits der Maskenball steht für eine patriarchale Gesellschaft, die vergeblich wahre Gefühle verbergen und unterdrücken will. Ihren ersten Kuss tauschen Romeo und Julia heimlich unter einer Tribüne aus. Die Zuschauer im Residenztheater sehen ihn jedoch auf der Leinwand in riesiger Nahaufnahme.

Lisa Stiegler, Patrick Isermeyer und Vincent zur Linden in „Romeo und Julia“
Lisa Stiegler, Patrick Isermeyer und Vincent zur Linden in „Romeo und Julia“ © Birgit Hupfeld

Was Romeo und Julia fühlen, soll dem Publikum vehement nahegebracht werden. Die Musik, die Komponist Max Kühn zusammen mit einer vierköpfigen Live-Band entwickelt hat, setzt beatlastig dunkle Akzente beim Zwist der Familien, wird flirrend-schwebend in den Liebes-Szenen. Es ist ein filmmusikalisch anmutender Teppich, unermüdlich manipulativ, atmosphärisch schön aus der Ferne. Die Band trägt ähnliche Halskrausen wie manche Figuren, Kostümbildnerin Johanna Stenzel gelingt der Spagat zwischen einem historischen und heutig wirkenden Look.

Das Bühnenbild als Skulptur

Immer wieder wird etwas verdeckt, immer wieder etwas offenbart, in der Sprache, im Raum. Marlene Lockemann hat sich ein fantastisches Wunderwerk an zusammenschiebbaren Rängen ausgedacht, eine Konstruktion, die zunächst als massive Mauer zwischen den verfeindeten Familien steht, um sich beim Kreiseln der Drehbühne in mehrere Tribünen aufzufächern.

Nicola Mastroberardino und Pia Händler als Pater Lorenzo und Amme.
Nicola Mastroberardino und Pia Händler als Pater Lorenzo und Amme. © Birgit Hupfeld

Es ist eine spektakuläre Skulptur, die sich flexibel verwandeln kann. Stufen entstehen, auf denen die Figuren schreiten; verstrebte Fronten, die sie erklimmen können. Zur Wange Julias muss Romeo hochsteigen - die Liebe als Kletterpartie, die aber auch zum Absturz, in den Tod führen kann.

Elsa-Sophie Jach und ihr Team fügen dem Stück die Möglichkeit eines anderen Ausgangs hinzu. Bereits zu Beginn der Inszenierung deutet sich das alternative Ende an, wenn Pia Händler und Nicola Mastroberardino als Conférenciers den Blick auf ein Grab freilegen. Heitere Totengräber sind sie, setzen der Tragödie von Anfang an Humor entgegen. Das Leben, die Sprache ist ja auch ambivalent. „Gift“ bedeute auf Englisch „Geschenk“, wirft Mastroberardino später einmal ein.

„Drum lieb mit Maß!“

In der Rolle des Pater Lorenzo gibt er Julia ein Gift, mit dem sie zum Schein sterben kann. Er und Julias Amme, die Pia Händler mit der Grazie eines Pierrots spielt, beobachten hin und wieder das Geschehen, hoffnungsvoll, verzagt, mitfühlend. „Der beste Honig schmeckt, zu dick aufgetragen, widerlich, verdirbt den Appetit“, singt der Pater, seine Stimme wie bei einem Cloudrapper verzerrt, und mahnt: „Drum lieb mit Maß!“.

Unter Jachs einfallsreicher, den Klassiker wie die feministische Botschaft im Blick behaltender Regie spielt das Ensemble jedoch mit so viel Tempo und Esprit, dass die Liebe überschwappt. Maßlose Begeisterung, ja, Standing Ovations für das ganze Team.

Residenztheater, nächste Vorstellungen am 21. Mai, 4., 7. und 26. Juni um 19.30 Uhr, Karten online und unter Telefon 2185 1940

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